Ralf Fücks, FAZ:

Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs ist Konfliktvermeidung gegenüber Russland das oberste Gebot deutscher Außenpolitik. Weil der Kreml das weiß, hat er keine Hemmung, militärische Gewalt einzusetzen. Ein anderer gewichtiger Faktor wurde jetzt vom Bundespräsidenten ins Spiel gebracht: das Gefühl einer historischen Schuld. Dabei werden die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion allein Russland zugerechnet. Dass Belarus und die Ukraine gemessen an ihrer Bevölkerung die meisten Toten zu beklagen hatten und die Rote Armee ein buntes Völkergemisch war, kommt in der deutschen Erinnerungspolitik kaum vor. Die Schuld-Empathie richtet sich allein auf Russland.

Eine weitere Tiefenschicht bildet der Mythos der Seelenverwandtschaft. Er beschwört das gemeinsame Empfinden für Seelentiefe statt Kommerz, Gefühl statt kalter Rationalität, Tragik statt Hedonismus. Der Affekt gegen die westliche Moderne ist bis heute eine Unterströmung in beiden Ländern. Auch die Idee einer Achse Berlin-Moskau lebt nicht nur in eurasischen Zirkeln fort. Dass europäische Stabilität auf einem Arrangement mit Russland aufbauen muss, ist ein immer wiederkehrendes Mantra der deutschen Politik. In Polen, den baltischen Ländern und der Ukraine erinnert Nord Stream 2 an den unseligen Pakt der beiden Großmächte über ihre Köpfe hinweg.

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